Menschenbild statt Leitbild.

In zahlreichen Organisationen und gerade auch in Krankenhäusern ist das Vorhandensein eines Leitbildes eine Selbstverständlichkeit. Fragt man jedoch die Mitarbeitenden nach den Inhalten des meist wohlformulierten und auf Hochglanzpapier gedruckten Dokuments, ist die Antwort häufig Achselzucken. Wo ist es überhaupt – irgendwo auf der Website, irgendwo in der Schublade, vor ein paar Jahren wurde es doch mal für alle verteilt… 

Wenn ein Leitbild offensichtlich wenig Beachtung findet und entsprechend geringe Wirkung erzielt – hat es dann heute noch eine Daseinsberechtigung? Was könnte ein Gegenentwurf sein?

In veränderten Arbeitswelten wird die Rolle des Menschen immer wieder neu definiert. Der Entwicklung eines Leitbildes liegt der Anspruch zugrunde, die Frage „Wer wollen wir sein?“ zu beantworten und festzuschreiben. Der vorherige Schritt muss jedoch sein, uns zu fragen: „Wer sind wir überhaupt?“ bzw. „Wie sehen wir uns?“ Jeder Mensch hat ein vereinfachtes Bild von sich selbst und seinen Mitmenschen, welches ihm manchmal bewusst und häufig auch unbewusst ist. Eine zentrale Rolle spielen hierbei die Erfahrungen, die er im Laufe des Lebens gemacht hat – im Arbeitskontext und darüber hinaus.

„Zum Menschenbild gehören alle Vorstellungen, die die Menschen über sich und andere Menschen sowie über ihre gegenseitigen Beziehungen haben. Das Menschenbild ist ein Abbild der gesellschaftlichen Praxis dieser Menschen und ändert sich mit dieser.“ (Kuhn, 1990)

Der Ausspruch „Ich kenn doch meine Pappenheimer“ lässt ein bestimmtes Menschenbild erahnen. Wenn unterschiedliche Erfahrungen zu unterschiedlichen Menschenbildern führen, lässt sich daraus ableiten, dass in jedem Unternehmen zahlreiche individuelle Wirklichkeiten und damit unterschiedliche Menschenbilder aufeinanderprallen. Diese Menschenbilder haben auf unsichtbare, aber umso wirksamere Weise Auswirkungen auf das, was täglich in einer Organisation geschieht.

Denn hinter jeder Entscheidung, jeder Handlung, jedem Umgang mit einer Kollegin oder einem Kollegen stehen bestimmte Annahmen über die Natur des Menschen (Weinert, 1984) – und dies gilt für jede und jeden, unabhängig vom Platz im Organigramm. Denken wir allein unsere Erwartungshaltungen an das Gegenüber, die offiziellen (und inoffiziellen) Anreiz- und Belohnungssysteme, das Teilen von Wissen, die individuellen Einflussmöglichkeiten und den Umgang mit Hierarchie.

Im Mittelpunkt eines Unternehmensleitbildes stehen Verhaltensweisen, die von den Erstellenden (meist eine Arbeitsgruppe verschiedener Führungskräfte im Rahmen eines komplexen Projekts) als wünschens- bzw. erstrebenswert eingestuft werden. Das Dokument dient als Regelwerk, als Grundgesetz, es listet Normen auf, die es einzuhalten und in den Alltag einzubinden gilt. Das Ziel: Alle im Haus mögen sich bitte daran orientieren. Führungskräfte mögen ihre Grundsätze und ihren Führungsstil daran ausrichten. Neue Mitarbeitende bekommen es ausgehändigt. Es handelt sich somit um symbolische – nicht jedoch um direkte – Kommunikation.

Hiermit stehen Fragen im Raum:  Warum kommunizieren wir das Leitbild mehr nach außen (auf der Website) als nach innen – da wo es angeblich wirken soll? Und warum nehmen wir an, dass aus unserem idealisierten Wunsch (wie wir alle sein wollen) einfach so Realität wird?

Ohne Frage, ein Leitbild ist gut gemeint, denn es soll das Gemeinsame, Verbindende auf den Punkt bringen. Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass jeder Mensch seine eigene Wirklichkeit hat: Wie sinnvoll kann ein (vorgegebenes) Leitbild sein? Wie kann ein Leitbild die Wahrnehmung, Denk- und Verhaltensweisen innerhalb verschiedener Berufsgruppen, Abteilungen, Hierarchieebenen und Unternehmensstandorte abdecken? Schon allein die Frage, wer das Leitbild entwickelt hat, verdeutlicht unser Menschenbild: Wer hat hier (anderen) was zu sagen?

Ein auf traditionelle Weise entstandenes Leitbild zementiert stärker die Annahmen der Vergangenheit, als dass es ein positives gemeinsames Zukunftsbild zeichnet.

Sätze, die zwar perfekt formuliert, aber nicht lebendig sind, helfen nicht weiter.

Im Gegenteil: Sie führen zu Zynismus auf den Fluren und in Pausenräumen. Zudem berücksichtigen sie bestehende Zielkonflikte nicht: Wie sollen Menschen – wie im Leitbild angepriesen – wirklich kooperativ zusammenarbeiten, wenn hierarchische Strukturen dominieren und die organisationalen Ressourcen begrenzt und umkämpft sind?

Im Menschenbild findet ein Paradigmenwechsel statt: vom rational-ökonomischen Bild des Mitarbeitenden hin zur ganzheitlichen Wahrnehmung und Anerkennung als ein sich selbstentfaltendes Wesen. Das zentrale Prinzip der Theorie Y ist Integration. Menschen möchten verstehen, gestalten und den Sinn des großen Ganzen erfassen – vor allem in Veränderungsprozessen. Werte wie Eigenverantwortlichkeit, Selbständigkeit und Selbstverwirklichung bahnen sich immer mehr Raum, gerade bei jüngeren Mitarbeitenden (Hesch 1997).

Wir brauchen Austausch statt Einbahnstraßen-Kommunikation, Authentizität statt Perfektionismus, Lebendigkeit statt „ist fertig und fassen wir nicht nochmal an.“

Wenn wir doch wissen, dass Erfahrungen auf unsere Menschenbilder und somit auf unser Handeln einwirken – Stellen wir uns die Fragen: Welche Erfahrungen haben wir (gemeinsam) gemacht? Sehen wir uns in der Lage (und ist es strukturell vorgesehen), dass wir andere und positivere Erfahrungen machen?

Entwickeln wir neue beziehungsorientierte Formate, öffnen Räume und bieten Kanäle.

Hierfür nötig sind sind Mut und Vertrauen, die Beschäftigung mit diversen Weltsichten und Menschenbildern zuzulassen und als Bereicherung zu erleben. Was uns im Gesundheitswesen miteinander verbindet, muss nicht zwingend festgeschrieben werden. Wir wissen, wofür wir jeden Morgen aufstehen. Wir verbessern die Lebenssituation der uns anvertrauten Patient:innen, wir retten sogar ihr Leben – und jede und jeder trägt seine Weise dazu bei.

Planen wir also Zeit zu investieren, ein Leitbild zu erarbeiten, sollten wir drei Dinge tun:

  1. Uns zunächst mit den Fragen auseinandersetzen: Wozu brauchen wir überhaupt ein Leitbild? Welches Problem soll das lösen? Können wir das Problem auch anders lösen? Oder vielleicht haben wir ein ganz anderes Problem?
  2. Keinesfalls ein abzuschließendes Projekt, sondern einen lebendigen und lernenden Prozess daraus machen. Dieser sollte möglichst viele Perspektiven einbeziehen – und das immer und immer wieder. Anfassbar, anpassbar – und eben nicht aus der Schublade heraus.
  3. Bleiben wir realistisch: Passt das, was wir zu Papier bringen wollen, auch wirklich zu uns und unseren Strukturen? Noch einen Schritt weiter gedacht: Was müssen wir hinsichtlich unserer Strukturen und Prozesse ändern, um die Werte, die wir anstreben, auch wirklich leben zu können?

Leitlinien und Vorgaben gibt es im Gesundheitswesen schon mehr als genug, oft aus gutem Grund.
Haltung aber lässt sich nicht verordnen.

Wir wollen über Werte sprechen? Aber gern!
Doch dann stellen wir bitte nicht das „geleitet werden“ in den Mittelpunkt, sondern uns Menschen.

Erlauben wir uns, von innen zu leuchten statt an der Oberfläche zu glänzen. Wenn uns dies gelingt, schaffen wir eine gemeinsame Vision, die mehr bewirkt, als es das perfekteste Leitbild jemals könnte.

Weitere Thesen:


Literatur:
Hesch, G. (1997). Das Menschenbild neuer Organisationsformen. Mitarbeiter und Manager im Unternehmen der Zukunft. Wiesbaden, Gabler
Kuhn, H. (1990). Menschenbild. In H. J. Sandkühler (Hrsg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Band 3, Hamburg, S. 358-366
Weinert (1984). Menschenbilder als Grundlagen von Führungstheorien, in: zfo, 1984, Heft 2